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AutorenbildP. Roth & G. Dazzi

Retrospektive – riflessione – prevista

Aktualisiert: 20. Nov. 2018

Mai sottovalutare il calcio, mai! Der Fussball hat uns Tor und Tür in Genua geöffnet und die Bekanntschaft mit renommierten Fussballhistorikern, welche noch heute im Circolo Svizzero verkehren, ermöglicht. Und was haben wir erfahren? Vergesst die Schweizer Fussballer des «Genoa Cricket and Football Club» (die Präsidentin des Circolo Svizzero di Genova wird es freuen). Es kommt nämlich noch viel besser: Der F.C. Torino wurde von einem Engadiner ins Leben gerufen, von einem gewissen Edouard Johann Peter Buosch aus Zuoz! Die Familie Bosio, wie sie in Torino hiess, war schon Anfang des 19. Jahrhunderts als Zuckerbäcker nach Italien ausgewandert.

Sie eröffnete 1845 die erste (!) Bierfabrik in Italien, die spätere Bosio & Caratsch, welche 1937 der Pedavena verkauft wurde.

Die Familie besass ausgesprochenen Unternehmergeist und investierte schon bald auch in die englische Textilbranche. Edoardo Bosio gründete nach einer Rückkehr aus England in Torino einen Ruderclub. Da es im Winter nichts zu rudern gab, spielten er und seine vorwiegend englischen Kollegen Fussball. Ähnlich wie in Genua wurde auch das Fussballspielfeld in Torino zur «business-community»: Eine sportbegeistert- protestantische Elite mit direktem Draht zur Schweizer Bankenwelt und zum italienischen Adel brachte den Ball schnell ins Rollen. Zuerst verliefen die Spiele zwar noch etwas chaotisch, da die Italiener anscheinend Mühe mit den Spielregeln hatten. So berichtete ein Zeitzeuge in einem Freundschaftsspiel im Jahr 1891 zwischen einer englischen Mannschaft und dem FC Torino:

«… deposi la giacca ed eccomi in gara. Prima di tutto, non c’era l’ombra dell’arbitro; in secondo luogo, col passar dei minuti, la squadra italiana avversaria andava sempre più ingrossandosi. Ogni tanto uno del pubblico, entusiasmato, entrava in giuoco, sicché ci trovammo presto a lottare contro una compagine formata da almeno venti giocatori. Ciò non ci impedì di vincere 5 a 0.»

«… ich legte die Jacke ab und war bereit für den Wettkampf.

Erstens fehlte vom Schiedsrichter jegliche Spur; zweitens wuchs die italienische Mannschaft im Minutentakt kontinuierlich an. Immerfort trat ein Fussballbegeisterter aus dem Publikum aufs Spielfeld um seine Mannschaft zu unterstützen. Schon bald mussten wir gegen mindestens 20 italienische Gegner spielen. Dies hinderte uns jedoch nicht daran das Spiel mit 5 zu 0 zu gewinnen.»


E i bimbi? Wir haben die Kinder Genuas gefunden: In den kleinen piazze, mitten in den caruggi, spielen sie Fussball, der Priester spielt (noch immer!) mit oder verfolgt die Partie als Schiedsrichter. In den verstreuten Parks und Grünanlagen (Spianata Acquasola, Giardini Luzzati, Villa Gruber, Giardini dei Maestri del Lavoro…) turnen die Kinder auf den Klettergerüsten und Bäumen umher, rennen und springen. Sie streichen auf allen Vieren durch die Gebüsche – nicht selten dort, wo kurz zuvor die Hunde ihr Geschäft verrichtet haben. Die Eltern, gutgelaunt nach einem Bier oder einem Gläschen Wein und einem Stück focaccia, 'pfeifen' gegen 19.00 Uhr ihre Kinder zurück und übersehen dabei nonchalant die Löcher in den Hosen und die schwarzen Hände und Gesichter ihrer Kinder.

Was die kleinen Hündchen anbelangt: ci siamo arresi! Wie uns die vielen Renaissance-Fresken in den historischen palazzi beispielhaft gezeigt haben, gehört ein Schosshündchen einfach dazu. Basta!


Was wäre Italien ohne Streiks? Non sarebbe l’Italia, appunto! Wir haben nur einen privaten Streik erlebt, aber einen sehr unangenehmen: Unser kleiner Lift – er erleichtert uns die über 20 Meter Höhenunterschiede, die wir in unserem palazzo zu bewältigen haben, erheblich – gönnte sich zwei Tage lang eine Ruhepause. Ob er humanere Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitstage oder sogar Ferien einforderte, haben wir nicht erfahren. Am eigenen Leib haben wir jedoch gespürt, was es uns an Energie kostet, die sieben Stockwerke mit all den Einkaufstaschen und Kindern im Schlepptau zu meistern. Die 91-jährige Frau, die auf unserer Etage wohnt, erklärte uns, weshalb die Genueser das italienische Primat bezüglich Langlebigkeit innehätten: China e montà (hinauf- und hinunterstiegen) heisst das Geheimrezept für ein langes, gesundes Leben. Die Statistik gibt unserer energischen Nachbarin recht: 40% der GenueserInnen ist 65 und mehr Jahre alt. «Genova è l’America tra 30 anni, è l’intero mondo occidentale del 2050», meint der italo-amerikanische Professor für Gerontologie und Biowissenschaften, Valter Longo. Das Museum für zeitgenössische Kunst in Genua, Villa Croce, hat diesem Thema sogar eine Sonderausstellung gewidmet. Wir nehmen den Ratschlag unserer Nachbarin zu Herzen, packen unsere Rucksäcke und steigen die vielen Treppen in unserem Haus hinab. Vom Bahnhof Brignole führt eine crêuza entlang der alten Stadtmauern hinauf bis auf die Righi. Auf den historischen Mauern des 17. Jahrhunderts wird heute boccia gespielt.

Fasziniert bleiben wir stehen und schauen den wild gestikulierenden Männern zu. Vielleicht ist dies eine Besonderheit Genuas: Wenn man jemanden interessiert bei einer Tätigkeit beobachtet, wird man nicht einfach ignoriert, sondern sofort in die Aktivität miteinbezogen und es entwickelt sich immer ein sympathisches, offenes Gespräch. So auch diesmal: Wir sollten mal raten, wer der älteste der Bocciaspieler sei, meint die Seniorengruppe. Wir tippen auf den kleinen, etwas mageren Mann mit der Mütze. Nein nein, meinen die Männer, der sei bloss 89 Jahre jung. Alle anderen seien über 90, der älteste, bald 97, sei heute aber nicht hier, er müsse seinem Enkel bei irgendeiner Sache zur Hand gehen.

Unsere Kinder haben das Crêuze–hinunter–und–hinauflaufen bald einmal satt. Das Argument der Lebensverlängerung greift bei ihnen irgendwie nicht. Und so nehmen wir das Angebot der Präsidentin des Circolo Svizzero, Elisabetta Beeler, dankend an und begeben uns mit ihr und ihrem Mann auf die Wanderung entlang des alten Aquädukts.



Dieser führt die Val Bisagno hinaus, in die Stadt Genua hinein und hinunter zum Meer. Wir wandern auf der mittelalterlichen Wasserleitung durch Gärten und Olivenhaine, vorbei an alten Mühlen, überqueren auf hohen Brücken kleine Täler und rauschende Bäche, picknicken im Schatten der im romanischen Stil erbauten Kirche San Siro.



Elisabetta Beeler erzählt uns von ihrer Jugend, die sie in Nervi, im Albergo Savoia, verbracht hat. Ihre Urgrossmutter, Anna Dahinden-Adler, gehörte zu den tapferen, selbstbestimmten Frauen, welche Ende des 19. Jahrhunderts in Nervi am Werk waren und die heute gänzlich in Vergessenheit geraten sind. Frau Margarita Fanconi-Klainguti, als weiteres Beispiel, vollendete nach dem Tod ihres ersten Mannes den Bau des Hotels Bernina in Samedan. Mit ihrem zweiten Mann, Tomaso Fanconi, eröffnete sie nicht nur in Sankt Moritz das Hotel Viktoria, sondern übernahm in Nervi das grösste Luxushotel: das Hotel Eden. Sie unterstütze Anna Dahinden-Adler, welche soeben verwitwet in Nervi auf Besuch war, bei ihrem Unterfangen, ein Grundstück an der Riviera zu kaufen und die Pension Sanitas, später Hotel Savoia, zu erbauen. Gleichzeitig machte sich eine dritte Frau auf die Reise nach Nervi: Paulina Scheuber, erst 14 jährig, riss zu Hause in Oberbüren (Nidwalden) aus und fand in der Villa Pagoda in Nervi zuerst als Küchengehilfin, später dann als Kindermädchen, ihr Auskommen. Dank einer Heldentat – sie rettete die fünf Kinder ihrer Gastfamilie vor dem zerstörenden Brand im Opernhaus in Buenos Aires – gelangte sie zu einer ansehnlichen Summe Geld mit welcher sie, wieder zurück in Italien, die Villa Pagoda kaufte und in ein chinesisches Restaurant verwandelte. Wir schreiben notabene das Jahr 1888! Eine vierte Frau, ein gewisses «Fräulein Bürgi», betrieb zur gleichen Zeit ebenfalls ein Hotel in Nervi. Nur eben: Während das Historische Lexikon der Schweiz jeden Mann, der irgendwann mal den Grad eines Brigadiers erreichte, erwähnt, schweigen sich unsere Nachschlagewerke konsequent über diese Schweizer Pionierinnen in Italien aus.

Links im Bild: der imposante Hotel-Kasten der Engadiner Familie Fanconi-Klainguti. Rechts: die orientalisch angehauchte Pagoda der Nidwaldnerin Paulina Scheuber.

«Ciao cari!» Dieser Ausruf, mit dem uns die beiden besagnin magrebin di Zena jeweils begrüssen, wird uns, einmal zurück in der Schweiz, fehlen. Besagnin ist in Genua der Ausdruck für einen Gemüsehändler. Es handelt sich dabei um eine Verkleinerungs- resp. Verniedlichungsform von Bisagno. Der Fluss Bisagno sorgt in heutiger Zeit oftmalig für traurige Schlagzeilen – so beispielsweise wenn er nach einem starken Unwetter wieder einmal seine Todesopfer fordert. Früher war er für ganz andere Qualitäten bekannt, denn er bewässerte damals in erster Linie die vielen Gärten in der Val Bisagno und stellte somit die Versorgung der Stadt mit frischem Gemüse und Früchten sicher.

Dass wir heute den Gemüseladen unserer besagnin schlecht gelaunt betreten ist verständlich: Schon bald werden wir wieder in die geschmackslosen, wässrigen Tomaten in der Schweiz beissen müssen, uns über die noch grünen, steinharten Pfirsiche, die aber schon faul schmecken, aufregen und gedankenlos die Melonen abtasten auf der Suche nach dem reifsten Exemplar… Komischerweise scheinen heute aber auch unsere besagnin nicht eben gut drauf zu sein. Hassan – Assanuzo genannt und Sampdoria-Fan – und Abdelali – Dudu per gli amici e tifoso del Genoa – stammen beide aus Marokko und sind nun schon seit bald 18 Jahren in Genua.


Abdelali Salmane (links) und Hassan Latif

Sie sind die Freundlichkeit in Person und wirtschaften unglaublich kundenorientiert. Auf telefonische Bestellung beliefern sie die alten Frauen und Männer mit dem geschmacksvollsten Gemüse und den reifesten Früchten – egal ob deren Wohnung in den alten palazzi per Lift oder nur zu Fuss erreichbar sind. Jeden Morgen um 4 Uhr begibt sich Assanuzo auf den Engros-Gemüsemarkt wo er stundenlang zwischen den Ständen umherläuft und kostet und marktet. Nur eben: Jetzt ist Ramadan-Zeit und er darf ab 3.45 Uhr in keinen Apfel mehr beissen, keine Erdbeere auf der Zunge zergehen lassen und auch nicht den Zuckergehalt der Aprikosen testen. Gestern hatte er offensichtlich zu viel bezahlt für die Ware, die nicht seinem Gusto entsprach. Uns schmeckt sie trotzdem – no grazie, oggi niente prezzemolo in omaggio, domani dobbiamo ritornare in Svizzera…


 

An dieser Stelle sprechen wir unseren tiefsten Dank aus an all jene, die uns Genua erklärt haben.

Danke, grazie, grazcha:

Elisabetta Beeler, Präsidentin des Circolo Svizzero: für alle Türen und Tore, die Du uns geöffnet hast e per l’amicizia tua e della tua famiglia. Grazie Ciughi!

Jacopo Pennone, un desperado come noi: per l’organizzazione del nostro appartamento, stupendo!

Sauro Ubaldi, pasticciere e proprietario del Gran Bar Fratelli Klainguti: per ogni morso in un Port Antur, divino!

Mariateresa Traverso, guida turistica: per l’immenso amore e la profonda conoscenza della storia di Genova che ci hai trasmesso.

Stefania Cortigiano e Maurizio Pinto, gestiscono il miglior ristorante di Genova: senza il vostro Voltalacarta Genova non sarebbe più Superba. Mi–fido–di–te al 100%.

Paolo Pioli, ün randulin da Sent, proprietari dal restorant E Prïe Rosse: per tuot las bunas artischoccas e squisitas tagliate al rosmarino.

Marco Doria, ex-sindaco di Genova, prof. all’ Università di economia a Genova: per l’intervista che ci ha rilasciato e le informazioni preziose che ci ha dato.

René Rais, Schweizer Honorarkonsul in Genua: für die wertvolle Zeit, die Sie sich für unsere Anliegen genommen haben und die lebhaften Kindheits-Erinnerungen, die Sie uns erzählt haben.

Marco Cazzulo e Fabrizio Càlzia, ricercatori, documentalisti, scrittori, editori: per la vostra generosità con la quale ci avete messo a disposizione le vostre ricerche.

Hassan Latif e Abdelali Salmane, i besagnin magrebin di Zena: ci mancate, molto!

E molti altri ancora, entrati così, senza che magari ci accorgessimo nella nostra vita nei caruggi di Genova.

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